Überschuldung privater Haushalte

Die Aufnahme von Krediten gehört zu den normalen Handlungsweisen von privaten Haushalten in einer Marktwirtschaft. Bestimmte Lebenslagen machen das Eingehen von Kreditverpflichtungen erforderlich. Mündet jedoch Verschuldung in Überschuldung, bedeutet dies Armut. Im Rahmen des Armuts- und Reichtumsberichts kommt daher der Frage nach den Ursachen und Wirkungen von Überschuldung besondere Bedeutung zu.

 

Überschuldung als Armutskrise

Unter Überschuldung wird die Nichterfüllung von Zahlungsverpflichtungen verstanden, die zu einer wirtschaftlichen und psychosozialen Destabilisierung der Betroffenen führt. Überschuldung ist ein Ausdruck von Armut. Besonders häufig ist dabei die primäre Verschuldung (z.B. Miet-, Energie- und Telefonschulden) und die Kreditverschuldung (insbesondere bei Kreditinstituten und im Handel). Überschuldete Haushalte können mit ihren laufenden Einkommen (nach Auflösung ihrer Reserven) den Zahlungsverpflichtungen nicht mehr vollständig nachkommen, selbst wenn sie ihre Lebenshaltung einschränken. Sie geraten in eine ernste Unterversorgungslage, sind im alltäglichen Leben eingeschränkt und Streß sowie psychischem Druck ausgesetzt. Finanzielle und psychosoziale Destabilisierung verstärken sich oft gegenseitig. 42 Diese Situation belastet auch die Kinder, erschwert deren Erziehung und beeinträchtigt deren Entwicklung. Für eine wirksame Überschuldungsprävention und -bekämpfung ist es wichtig, die materielle und immaterielle Seite der Überschuldungssituation zu berücksichtigen und im Rahmen der Schuldnerberatung zu stabilisieren. Im Mittelpunkt einer wirksamen Strategie der Vermeidung und Bekämpfung von Überschuldung steht die Schuldnerberatung, Schuldenbereinigung und Entschuldung ohne gerichtliches Verfahren. Allerdings ist in der Diskussion der letzten Jahre das neue Verbraucherinsolvenzverfahren mit der Möglichkeit der Restschuldbefreiung in den Vordergrund gerückt.

 

Zahl der Überschuldungsfälle

Die GP Forschungsgruppe hat in den 90er Jahren mehrere Gutachten zur Überschuldung und zur Schuldnerberatung vorgelegt. Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgende Entwicklung (Schätzungen): 41 Der Bericht zur Überschuldungssituation stützt sich auf ein Gutachten zur Überschuldung in Deutschland zwischen 1988 und 1999", das von der GP Forschungsgruppe - Institut für Grundlagen- und Programmforschung –unter Leitung von Dr. Dieter Korczak im Auftrag der Bundesregierung im September 2000 erstellt wurde. 42 Korczak, D. u.a.: a.a.O.

 

 

 

 

 

 

Entwicklung der Überschuldungsfälle

Jahr

Westdeutschland

Ostdeutschland

Insgesamt

1989

1994

1997

1999

 

rund 1,2 Mio.

rund 1,5 Mio.

rund 2,1 Mio.

rund 1,9 Mio.

-

rund 0,5 Mio.

rund 0,58 Mio.

rund 0,87 Mio.

 

 

-

rund 2,0 Mio.

rund 2,68 Mio.

rund 2,77 Mio.

 

Quelle: Korczak, D. u. a.: Überschuldung in Deutschland zwischen 1988 und 1999

Die Überschuldung hat offenbar in Westdeutschland 1997 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht und ist seitdem in der Tendenz leicht rückläufig, bewegt sich aber immer noch auf einem hohen Niveau. In Ostdeutschland hat sich die Situation weiter verschärft und 1999 mit 870.000 Haushalten ihren vorläufigen Höchststand erreicht.

 

Überschuldungsstrukturen

Unter den Überschuldeten, die Schuldnerberatung nachsuchten, befanden sich 1999 rund 2,0% unter 20 Jahren, 20% zwischen 20 und 30 Jahren, 36% zwischen 30 und 40 Jahren, 25% zwischen 40 und 50 Jahren und 17% über 50 Jahren. Überschuldung tritt also besonders im Alter zwischen 20 und 50 Jahren auf. Im Zeitvergleich von 1994 bis 1999 ist in Ost- wie Westdeutschland eine deutliche Verschiebung der Altersstruktur der Überschuldungsfälle in die älteren Jahrgänge festzustellen (deutlich weniger Fälle unter 30 Jahren, deutlich mehr Fälle über 40 und 50 Jahren). Der geringe Anteil von Jugendlichen an der Klientel der Schuldnerberatungsstellen täuscht aber. Der Weg in die Überschuldung beginnt oft in sehr jungen Jahren. Heute haben bereits 20% der Jugendlichen im Westen und 14% der Jugendlichen im Osten Schulden. Bei Eintritt in die Berufstätigkeit und Vollendung des 18. Lebensjahres steigt die Schuldenhöhe junger Menschen, da sie nun auch von den Banken Kredite erhalten. Auch hinsichtlich des Familienstands überschuldeter Menschen gibt es in den 90er Jahren Veränderungen. Einpersonenhaushalte haben Familien als stärkste Gruppe der überschuldeten Haushalte abgelöst. Während 1994 noch in gut der Hälfte der überschuldeten Haushalte Kinder lebten, belief sich 1999 der Anteil der überschuldeten Haushalte mit Kindern in Ost- wie Westdeutschland auf rund 43% (s. Anhangtabelle ) In den 90er Jahren zugenommen hat insbesondere der Anteil der Einpersonenhaushalte; dieser Anteil belief sich 1999 auf rund 45% (West 44,5%, Ost 46%).

Der relativ größte Anteil überschuldeter Personen bezieht Erwerbseinkommen (s. Anhangtabelle ). Dies erhöht die Chancen der Einigung mit Gläubigern sowohl bei der Schuldenbereinigung durch Schuldnerberatungsstellen als auch im Verbraucherinsolvenzverfahren. Das Ausmaß der Erwerbsbeteiligung überschuldeter Personen fällt in Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedlich aus. Über die Hälfte der Überschuldeten in Westdeutschland bezieht Lohn oder Gehalt (von 1988 bis 1999 stieg der Anteil von 49% auf 52%), in Ostdeutschland nur etwas mehr als ein Viertel (von 1994 bis 1999 stieg der Anteil von 26% auf 27%). Dementsprechend liegt der Anteil der Überschuldeten, die Lohnersatzleistungen erhielten, in Ostdeutschland vergleichsweise höher. Der Anteil überschuldeter Rentenbezieher nahm im Verlauf der 90er Jahre in Ostdeutschland (Vergleich 1994-1999) deutlich ab (16% auf 9%), in Westdeutschland (Vergleich 1988 bis 1999) deutlich zu (3% auf 11%).

Die Entschuldungschancen hängen auch von der Anzahl der Gläubiger ab. So ist beispielsweise das Verbraucherinsolvenzverfahren mit vielen Gläubigern sehr aufwendig und die Schuldenregulierung schwierig und langwierig.43 1999 hatten 8% der überschuldeten Haushalte einen Gläubiger, 40% bis zu fünf, 67% unter zehn und 33% zehn und mehr Gläubiger. In Ost- und Westdeutschland ist bei überschuldeten Haushalten die Kreditverschuldung bei Kreditinstituten und im Versandhandel dominierend. Telefonschulden gewinnen insbesondere aufgrund der steigenden Verbreitung des Handys an Bedeutung. In Ostdeutschland sind Haushalte doppelt so häufig von Miet- und Energieschulden betroffen wie in Westdeutschland. Ein weiteres wichtiges Kriterium zur Beschreibung der Überschuldungssituation ist die Höhe der Zahlungsverpflichtungen, denen ein Haushalt zu Beginn der Beratung gegenüber steht (s. Anhangtabelle). Die Entschuldungschancen werden wesentlich vom Verhältnis der verbliebenen finanziellen Leistungsfähigkeit zu der Schuldenhöhe beeinflußt. Bei den Klienten der Schuldnerberatungsstellen ergab sich 1999 folgende Auffächerung der Schuldenhöhen: Über ein Drittel der Überschuldeten (37%) hatte Schulden unter 20.000 DM, über zwei Drittel (68%) unter 50.000 DM und 17% der Überschuldeten hatte Schulden über 100.000 DM.

 

Anpassungsverhalten der Haushalte

Die Alltagsbewältigung erfordert den Einsatz humaner, materieller und sozialer Ressourcen. Humane Ressourcen nehmen dabei insoweit eine Schlüsselrolle ein, als sie andere Ressourcen erschließen. Auf der Seite der materiellen Ressourcen der privaten Haushalte spielen Einkommen, Vermögen und Kredite eine zentrale Rolle. Die Zunahme des bargeldlosen Zahlungsverkehrs erfordert von Haushalten und deren Mitgliedern eine höhere Wachsamkeit, um die Kontrolle über die Konsumausgaben und den Überblick über den sich verändernden Liquiditätsstatus zu behalten. Die Nutzung von Kreditkarten oder auch neueren Formen der bargeldlosen Bezahlung per Handy oder per Internet bergen Risiken hinsichtlich der Einschätzung der noch vorhandenen Liquidität. Haushalte geraten vorübergehend oder anhaltend in Problemlagen, wenn sie sich veränderten Lebensbedingungen nicht rasch genug anpassen können. Dann entstehen prekäre Lebensverhältnisse, die in Verarmungsprozesse übergehen können. Kritische Lebensereignisse mit einem starken Rückgang des Haushaltseinkommens und / oder einem Anstieg der zu deckenden Bedarfe sind vor allem Arbeitslosigkeit, Trennung und Scheidung oder die Geburt eines Kindes. Es hängt von der Anpassungsfähigkeit der Haushalte ab, ob nur eine vorübergehende Phase mit Krediten überbrückt werden muß oder ob ein fortschreitender Verschuldungsprozess entsteht.

Die Weichenstellung für den einen oder anderen Weg wird stark von der Rationalität der Haushaltsführung und des Marktverhaltens beeinflußt. Bildung und die Fähigkeit der Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung sowie ein kontrolliertes Verhalten (kognitives Involvement) der Haushaltsmitglieder bei Marktentscheidungen (hinsichtlich Konsum und Verschuldung) entscheiden wesentlich über die Bewältigung kritischer Situationen und ihre Überwindung. Dabei stellt sich die Aufgabe, kognitiv und emotional einen zumindest zeitweisen Abstieg auf ein niedrigeres Lebenshaltungsniveau und ggf. einen verminderten sozialen Status mit geringerem Prestige zu bewältigen und einen neuen Haushaltsstil zu finden. Wirtschaftliche Beratung und Bildung (z. B. durch Schuldner- und Verbraucherberatung oder hauswirtschaftliche Schulung und Familienbildung) sind wichtige Hilfen. Deren Inanspruchnahme ist für die Betroffenen jedoch nicht selbstverständlich. In einer labilen Situation, die leicht zu Rückzug aus und Partizipationsverlust an Gesellschaft führen kann, unterbleiben häufig die notwendigen Informations- und Kommunikationsschritte. Leben Menschen über längere Zeit in Einkommensarmut, ohne daß Änderungen der Umstände oder des Verhaltens gelingen, suchen sie mit Kreditaufnahmen und Vorratseinkäufen oder einer tageweisen Bewirtschaftung der geringen, diskontinuierlich zufließenden Mittel ihren Lebensbedarf notdürftig zu decken. Das Risiko einer anhaltenden Überschuldung ist hier hoch.

44 Sozialbericht NRW 1998, Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport (Hrsg.), Düsseldorf, 1998.

 

Ursachen der Überschuldung

Einer Überschuldung liegen zumeist mehrere Ursachen zugrunde. In erster Linie sind Arbeitslosigkeit und Niedrigeinkommen (Erwerbsbeteiligung und Einkommenserzielung) zu nennen, danach Probleme der Haushaltsführung und des Marktverhaltens (Haushalt, Konsum und Kredit) sowie Änderungen der Lebensbedingungen, insbesondere infolge von Trennung bzw. Scheidung oder aufgrund der Geburt eines Kindes. Auslösende Faktoren sind auch Erkrankung und Unfall. Bildungsdefizite können diese Faktoren verstärken. Familienrelevante Ereignisse wie Trennung oder Scheidung, Krankheit, Unfall, Tod oder der Wegfall eines Verdienstes bei Geburt eines Kindes sind insgesamt für mehr als ein Drittel der überschuldeten Haushalte die Gründe für diese Entwicklung. Arbeitslosigkeit war in den 90er Jahren das wesentlichste auslösende Moment für Verschuldungsprozesse. Ihre Dauer, der Umfang der Erwerbsbeteiligung anderer Haushaltsmitglieder und das Vorhandensein von finanziellen Reserven und /oder Wohneigentum sind mitentschei-dend, ob Verschuldung zu Überschuldung führt. In Ost- und Westdeutschland bestehen jedoch wesentliche Unterschiede. Für Ostdeutschland trifft Arbeitslosigkeit nach wie vor als primärer Auslöser zu. In Westdeutschland hat der Anteil der Erwerbstätigen unter den Überschuldeten deutlich zugenommen, die Überschuldung von Arbeitslosen ist dagegen im Verlauf der 90er Jahre relativ zurückgegangen. Die Eindämmung der Armutskrise "Überschuldung" ist möglich, insbesondere bei einem Rückgang der Arbeitslosigkeit und einer Zunahme der Beschäftigung. Die Vielfalt der Überschuldungsanlässe und das Auftreten neuer Risiken machen aber deutlich, daß Überschuldungs-probleme auch in Zukunft virulent bleiben werden. Deshalb darf bei Maßnahmen zur Armutsprävention und Überschuldungsbekämpfung nicht nachgelassen werden.

 

Zusammenfassung

Verschuldungsprozesse, die in Überschuldung münden, kommen in allen sozialen Schichten vor. Faktoren, die Überschuldung auslösen, sind in erster Linie Arbeitslosigkeit und Niedrigeinkommen, danach Probleme der Haushaltsführung und des Markt-, Konsum- und Kreditverhaltens. Häufig führen auch Lebensereignisse in der Familie, vor allem bei Trennung oder Scheidung sowie der Geburt eines Kindes zur Überschuldung. Auslösende Faktoren sind auch Erkrankung und Unfall. Bildungsdefizite können die Situation weiter verstärken. Arbeitslosigkeit ist in den neuen Ländern immer noch der wesentliche Auslöser von Überschuldung. In Westdeutschland hat aber der Anteil überschuldeter Erwerbstätiger deutlich zugenommen, während die Überschuldung von Arbeitslosen im Verlauf der 90er Jahre relativ zurückgegangen ist.

Die Überschuldung konzentriert sich überwiegend auf die Lebensphase zwischen 20 und 50 Jahren. Zwischen 1994 und 1999 war eine deutliche Verschiebung der Altersstruktur zu den älteren Jahrgängen (über 40 und 50 Jahre) festzustellen. Der Weg in die Überschuldung beginnt dennoch oft in jungen Jahren. So hatten 1999 20% der Jugendlichen im Westen und 14% der Jugendlichen im Osten bereits Schulden. Hinsichtlich des Familienstands haben Einpersonenhaushalte die Familien als stärkste Gruppe der überschuldeten Haushalte abgelöst.

Deutliche Unterschiede in Ost- und Westdeutschland wies das Ausmaß der Primärverschuldung (Miet-, Energie-, Telefonschulden) auf. Hiervon waren in Ostdeutschland

anteilmäßig doppelt so viele Überschuldete betroffen wie in Westdeutschland. Telefonschulden infolge intensiver Handynutzung markieren ein neues Problemfeld. Für die Bundesrepublik wird die Anzahl der Überschuldungsfälle im Jahr 1999 auf 2,77 Mio. Fälle geschätzt. In Westdeutschland war die Zahl seit 1997 leicht rückläufig, bewegte sich aber mit rund 1,9 Mio. überschuldeten Haushalten immer noch auf einem hohen Niveau. In Ostdeutschland hat sich die Situation weiter verschärft und 1999 mit 870.000 Haushalten ihren vorläufigen Höchststand erreicht. Eine Schlüsselrolle in Entschuldungsprozessen nimmt die Schuldnerberatung ein, die Überschuldete berät und begleitet sowie gegebenenfalls ein Verbraucherinsolvenzverfahren vorbereitet.

 


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